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Tunesien, Ägypten, Algerien, Bahrain, Libyen …
Yemen, Jordanien, Saudi-Arabien, …?
Die Tunesier haben einen Flächenbrand ausgelöst, dessen Ende und „Unter-Kontrolle-Bekommen“ heute keiner seriös vorhersehen oder -sagen kann. Genauso wenig lassen sich die Folgen für die einzelnen Staaten oder die Region abschätzen: Kommt eine Demokratisierungswelle oder schlägt das Ganze wie im Iran in neue Unterdrückungsregime um?
Und es geht mittlerweile nicht mehr nur um Tunesien und Ägypten, nicht einmal mehr nur um Nordafrika und Arabien, es geht längst um alle vom Westen gestützten Diktaturen dieser Welt, sei es in der genannten Region, sei es in Asien oder Afrika oder Amerika.
Wir Deutsche sitzen auf sehr unbequemen Beobachterstühlen und können – und wollen? – wenig zum Verlauf der Entwicklungen beitragen. Unbequem sind unsere Stühle, weil wir, wie die USA, viel zu lange die Diktatoren, deren Sturz wir heute bejubeln, unterstützt, gefördert, ja gehätschelt haben. Stand Mubarak nicht noch vor wenigen Wochen als DER Garant eines stabilen Friedens in unseren Geschichtsbüchern? Haben wir nicht noch vor wenigen Wochen laut über DESERTEC nachgedacht und wollten dies mit eben diesen korrupten Despoten umsetzen? Arbeitet die europäische Agentur “Frontex“ etwa nicht immer noch mit Gaddafi bei der Flüchtlingsbekämpfung im Mittelmeer zusammen und bezahlt diesen dafür mit Millionen, sogar dann noch, wenn in Bengasi und anderen Städten das libysche Militär Demonstranten mit Gefechtsmunition zusammenschießt?
Heute lamentieren wir über Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung, Folter, Korruption und Raub von Milliarden, aber nur gerade da, wo die Despoten wanken oder gar gefallen sind. Auf einmal von heute auf morgen, sind Mubarak, Gaddafi und Ben Ali Verbrecher, aber Al-Assad, Al Saud und As-Sabah sind nach wie vor anerkannte Gesprächs- und Verhandlungspartner. Wie verlogen! Wenn dann der nächste „Tyrann“ davon gejagt wird, ändern wir die Liste erneut? Wir sollten vielleicht eine Exceltabelle für das Auswärtige Amt erstellen mit einer automatischen Funktion – bei Klicken auf „Umsturz“: „Lösche Gaddafi bei den ‚Guten’, trage ihn ein bei den ‚Bösen’“?
Wir politisch denkenden und – angeblich – handelnden Menschen der „Musterländer der Demokratie“, die wir die Demokratie stets wie eine Monstranz vor uns her tragen, müssen uns endlich entscheiden, was wir eigentlich wollen: Demokratie ohne „Wenn und Aber“ oder Demokratie, aber immer nur dann, wenn uns ihre Ergebnisse in das Konzept passt:
̶ Mubarak fallen lassen und Al Saud weiter hofieren geht nicht!
̶ Ben Ali „bashen“ und mit Gaddafi Flüchtlinge im Mittelmeer jagen geht schon gar nicht!
̶ In Afghanistan für die Demokratisierung kämpfen und den anerkannten Wahlfälscher Karsai militärisch unterstützen geht überhaupt nicht!
Dabei müssen wir zwei Schritte voraus denken. Schaffen es die Demokratisierungsbewegungen an die Macht, so brauchen sie massivste Unterstützung, um die Verhältnisse in ihrem Land zu stabilisieren. Die Vergangenheit (Iran!) hat gezeigt, dass demokratisch an die Macht gekommene Regierungen schnell entweder selbst wieder in die Korruption abgleiten oder bei der nächsten Wahl von radikalen Kräften abgelöst werden.
Wir Deutsche sitzen eigentlich sogar bereits zwischen den Stühlen, wir haben nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Was wir auch machen, kann – bis auf eine Alternative – nur falsch sein:
̶ Unterstützen wir selbst jetzt weiter die Diktatoren, die noch an der Macht sind, so verspielen wir alle Kredite bei möglichen demokratischen Nachfolgern.
̶ Unterstützen wir die Demokratiebewegungen erst NACH einer Machtübernahme, verspielen wir unsere Glaubwürdigkeit.
̶ Kommen wirklich direkt oder im nächsten Wahlgang Radikale an die Macht, geht unser Einfluss sowieso auf Null.
Die einzig verbleibende Alternative: Unterstützen wir die demokratischen Gegenbewegungen! Starten wir von Deutschland aus eine Initiative, welche sich mit den Gegenbewegungen solidarisiert, welche die Konten der korrupten Klassen ins Visier nimmt und die geraubten Geldern für die kommenden Regierungen und den Aufbau sichert.
Wir werden uns mit dem Thema „Flucht“ auseinandersetzen müssen, besser heute als morgen. Die Ereignisse haben ansatzweise schon die möglichen Folgen gezeigt, ein „Kampf um das Überleben“ des Gaddafi-Clans wird die Schleusen öffnen. Es war eine Fehler, bisher bei diesem Problem auf die obskuren Hilfszusagen aus Tripolis zu vertrauen. Jetzt hilft nur noch eines: Ein geordnetes, menschenwürdiges Nach-Europa-Integrieren der Flüchtlinge zu organisieren. Für die bisherige europäische Flüchtlingspolitik gilt: „Ihre Basis ist die Zusammenarbeit mit Despoten, ohne diese zerbricht sie. Hier müssen alle EU-Länder ran und Solidarität zeigen.“[1]
Wenn Merkel vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung von „Flüchtlingsbekämpfung“ sprach, zeigt dies, dass das Denken unserer Regierung in genau die gegenteilige Richtung geht. Einer Erpressung Europas durch Gaddafi kann kein Demokrat zustimmen. Die nicht nachvollziehbare Haltung Italiens[2] muss unter dem Gesichtspunkt der „Männerfreundschaft“ Berlusconi mit Gaddafi beurteilt werden.
Die Demokratisierungsbewegungen in den Ländern brauchen keine Nachhilfe in „Demokratie“, wie sie Merkel und Co vollmundig zusagen, sie brauchen scharfe juristische Instrumente und internationale Unterstützung, um an die geraubten Gelder zu kommen und die – geflohenen – Verbrecher vor Gericht stellen zu können. Sie brauchen SOFORT die Einstellung aller Waffenlieferungen und aller Unterstützungen für die derzeitigen Diktatoren. Sie brauchen juristische Unterstützung in Deutschland, Europa und den USA, um die Verbrechen der letzten Jahre aufzuklären und die Verbrecher vor Gericht zu bringen.
Vor allem letzteres wird schwierig werden und zum „Lackmustest“ für unsere ehrlichen Absichten, denn dann werden auch Deutsche, Europäer und USA-Amerikaner vor den Gerichten landen. Aber eine wirkliche Alternative dazu bleibt uns nicht. Also sollten WIR uns an die Spitze dieser Bewegung setzen …
[2] Heftige Kritik an der Regierung in Tripolis übte auch der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn. „Es kann nicht sein, dass wir mit einem Regime zusammenarbeiten müssen, das seine eigenen Leute abknallt. Das geht nicht“, sagte Asselborn. Empörung herrscht unter den europäischen Politikern auch über die Drohung des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi, den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika über sein Land künftig nicht mehr zu unterbinden, wenn sich Europa hinter die Demonstranten stellen sollte. … Der italienische Außenminister Franco Frattini rief dazu auf, derzeit von … Strafen gegen das nordafrikanische Land abzusehen. „Europa sollte nicht eingreifen.“